Wie „sozial“ kann Kapitalismus sein? (Wolfram Pfreundschuh – 12.3.10)

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Wie war das mal dereinst mit dem Sozialstaat? Das sollte doch ein Gesellschaftsvertrag sein, der den Bürgern in sozialen Krisen beizustehen hatte, damit sie in den Wechselfällen des Lebens sich ohne Not erhalten konnten, damit dann, wenn sie aus der gewohnten Existenz herausfielen, wenn sich ihre Lage oder die der Gesellschaft, der Märkte und Konjunkturen mal veränderten, doch ein soziales Kontinuum durchgehalten werden konnte – eben weil das für alle gut war, zumindest für die Arbeitskraft, den Arbeitsmarkt und die Mobilität des Kapitals. Es war einmal selbstverständlich, dass die Menschen nicht nur für die Arbeit verfügbar sein sollten, sondern dass sich der Staat auch um ihren Erhalt als Bürger dieser Gesellschaft zu kümmern hatte, als Mensch einer Gesellschaft, die einen notwendigen Selbsterhalt der Menschen erforderte, weil alle für einen stetigen Warenkreislauf und für die Konkurrenz, die Arbeit und den Konsum von Bedeutung waren.
Dann wurde die Arbeit wieder knapper und die Finanzmärkte wieder brutaler. Es kamen die Krisen und dann kam Hartz IV. Die Bürger wurden wieder zu Bittsteller und mussten abgeben, was sie noch hatten, wenn sie aus dem Arbeitsleben herausgefallen oder herausgedrängt worden waren, weil sie nur noch haben durften, was Armut heißt. 359 Euro müssen für Erwachsene reichen – für alles -, 211 für Kinder. Davon sollen 132,83 Euro für die Ernährung eines erwachsenen Menschen genügen, gerade mal 4,42 Euro pro Tag für Erwachsene, 60 % davon, also 2,65 Euro für Kinder. Und die Miete wird zunehmend nur noch als „Rgelleistung“ pauschal „abgeglichen“, egal, wie hoch sie wirklich ist – in München z.B. zusammen mit Heizung zu 517,98 EUR, ein Satz der fast nirgendwo zu halten ist. Normale Wohnungen und auch Sozialwohnungen sind für eine Sozialhilfeempfänger praktisch längst unerreichbar geworden. Letzte vielleicht, wenn sie „nachweisen“ können, dass ihnen Obdachlosigkeit droht. Von etwaigen Zuverdiensten dürfen vom Lohn nur 100 Euro selbst behalten werden, bei „Selbständigen“ nur 30 Euro.
Wer rausfällt aus der Welt der Arbeit, die immer weniger wird, fällt nicht mehr in ein Netz, aus dem er sich wieder hochziehen kann. Er ist nach relativ kurzer Zeit aufgerieben durch Angst und Ämter, gerät in eine Spirale des Versagens und der Versagungen. Er muss auf die wichtigsten Einzelfallhilfen verzichten, seinen Wohnraum reduzieren, sich meist noch Mietzuschüsse bei Verwandten oder Freunden oder auf der Straße erbetteln und seine Kinder daran gewöhnen, dass sie wenig Chancen haben, es mal anders zu machen.
Und jetzt will sich auch noch der Staat als Gönner aufspielen, als Helfer der Gestrandeten. Nicht die Verhältnisse der Arbeit und der kapitalistischen Konjunktur sollen den Hartz-IV-Empfänger dahin gebracht haben, wo er gelandet ist. Er selbst soll jetzt das Problem sein. Er oder sie soll sich denen verpflichtet fühlen, die noch Arbeit haben. Sie nämlich würden ihn ernähren! Billiger geht’s nicht. Die neue Staatsideologie ist schlicht und einfach: Da gibt es die Leistungsträger auf der einen Seite, und denen stehen die Leistungsempfänger auf der anderen gegenüber. Spender aus der Leistungsgesellschaft gönnen den Empfängern gerade mal noch milde Gaben. Es ist ungeheuerlich, was sich da herausgebildet hat!
Nun wurde der Diskussion über so genannten sozialen Leistungen noch eins drauf gesetzt. Weil das Bundesverfassungsgericht erkannt hatte, dass der Hartz-IV-Regelsatz rein willkürlich festgelegt worden war und an den realen Lebensbedingungen vorbei geht, wurden die Grundkosten einfach umdefiniert. Real ist, was man an Selbstbeschränkung verlangen kann. Man muss es nur irgendwie beirechnen können. Und da kann man inzwischen viel. Es sei nämlich eigentlich gar kein Geld mehr da. Und dann wird der Geldwert der sogenannten sozialen Leistungen in Brot und Krumen gerechnet, während die Bankenrettung, die Steuersenkungen und die Versorgung der Automobilbranche und die Staatsverschuldung den Gesamthaushalt ins uferlose sprengen dürfen. Während es auf der einen Seite nicht mal für 1 Milliarde zur Versorgung der ärmsten Kinder mit einem warmen Mittagessen reicht, werden auf der anderen zig Milliarden in das Finanzsystem gepumpt. Jährlich zahlt der Steuerzahler alleine an Zinsen hierfür 63,2 Milliarden Euro. Tendenz steigend. Der Staatshaushalt lässt sich nicht mehr ohne Neuverschuldung machen, von Schuldentilgung ganz zu schweigen. Wenn man auch nur die unterste Angabe der Staatsverschuldung von 1,8 Billionen Euro zugrunde legt, tritt heute schon jeder Neugeborene mit 21.000 Euro Schulden ins Leben. Eine kleine Betriebsausstattung ist damit also schon mal im Voraus verspielt. Und das wird auch noch die nächsten 100 Jahre so bleiben. Was ist da los? Entweder geht da gar nichts mehr oder der Staat spielt nur einer ganz besonderen Spezies Geld zu, das anderswo eingespart werden soll.
Das ist ein altes Spiel, das aber nur dann besonders auffällt, wenn die Mittel für die Menschen wirklich knapp geworden sind, wenn also die Geldzerstörung der Finanzwirtschaft sich weitgehend totalisiert hat. In solchen Zeiten setzt der Staat dann nur noch auf produktive Geldverwertung, auf das systemische Vermögen der Banken, der Industrie und des Mittelstands, eine Produktion wieder in Gang zu setzen, die gerade von den Kapitalmärkten aufgelöst worden war. Zu teuer werden die Menschen, die dabei herausgefallen sind. Und zu verlieren hat der Staat ja auch nichts mehr, sehen doch alle, dass seine Politik nicht mehr wirklich funktioniert. Er hat keine Alternative und behauptet deshalb fahnenflüchtig, die Menschen hätten sie ja auch nicht.
Es hat vielleicht viele verblüfft, dass und wie ausgerechnet einer der einfältigsten Neoliberalen zum deutschen Außenminister und Vizekanzler gemacht worden ist. Doch es hat System. Westerwelle war in seinen Kreisen bekannt und geschult, befreundet mit dem Yuppie Cornelius Boersch und dem Wirtschaftsbetrüger Ellen Stanford und anderen aus der Halbwelt des Finanzkapitals, bekannt durch seine Reden in den Insidertreffen dieser Cliquen und entschlossen, den neoliberalen Karren durch kalte Marktradikalisierung wieder einzukriegen. So sollte man nicht überrascht sein, wie er die Sozialstaatsdebatte wieder in Gang gesetzt hat. Der ganze Zirkus, den da Westerwelle und Konsorten inszenieren, wäre leicht zu begreifen als bloße Wahlpropaganda einer Politik, die nicht wirklich in die Gänge kommt, bzw. keine politischen Möglichkeiten mehr hat, um noch etwas gegen die Arbeitslosigkeit bewirken zu können, um den Schein zu erzeugen, dass man sich dennoch bemüht und sich deshalb aufblähen muss. Aber wozu die Spaltung der Arbeitslosen in Faulenzer und Dienstbeflissene? Da geht es um wesentlich mehr. Da geht es um ein neues Staatskonzept, das sich auf ein neoliberales Staatsregulatitiv einschießt, das den Markt nicht mehr frei lassen kann, wenn das Kapital selbst nicht mehr funktioniert.
Aber die Empörung über Westerwelle kann auch schnell ersticken, wenn seine Botschaft zudem noch von den Gutmenschen der SPD uminterpretiert wird. Während die FDP die Arbeitslosen in einem „anstrengungslosen Wohlstand“ wähnt, sorgt man sich hier um die Freizeitgestaltung der Langzeitarbeitslosen, denen es doch besser ginge, wenn sie was zu tun hätten und auch freiwillig für wenig oder gar kein Geld zur Arbeit gingen, anstatt bloß rumzuhängen. Damit täten sie doch nur sich und der Gesellschaft zugleich was Gutes! Und irgendwie werden sie schon was dafür kriegen!
Wohlgemerkt, da geht es nicht um ein Freizeitangebot der Caritas. Da kümmert sich eine Politikerin namens Kraft um die ganz Schwachen. Da geht es um Vorstellungen und Zuweisungen gegen Menschen, die meist ohne eigene Schuld aus dem Arbeitsprozess heraus gefallen waren, weil es immer weniger Arbeit gibt, Menschen, die sich bislang gegen gesellschaftliche Mängel versichert fühlten. Da entfaltet sich plötzlich ein Gesellschaftsverständnis, wonach Gesellschaft nicht mehr aus dem Zusammenwirken der Menschen, sondern als Verpflichtung zur Arbeit, als Arbeitswert an sich besteht. Wer keine Arbeit hat und nicht vor dem Arbeitsmarkt in die Kniee geht, wer nicht dafür kuscht, dass er sich noch irgendwie, gleich wie, reproduzieren darf, der soll einer eigenen sozialen Spezies zugehören.
Das Marktgeschrei der Politik ist gewaltig, aber so laut es ist, so weit ist es von jeder inhaltlichen Debatte abgerückt. Es muss bezweifelt werden, dass es bei alle dem wirklich um das Geld aus dem Staatshaushalt geht. Insgesamt geht es um den Staat als Ganzes und zugleich auch nicht nur um den Staat, sondern um eine Krisenbeherrschung, wie sie dem Kapital nötig wäe. Das Sozialgefüge soll sich durch staatliche Fürsorge wieder in die Pflicht nehmen lassen, um die Anpasssung der Bürger an die Notwendigkeit einer krisenhaft gewordenen Nationalwirtschaft zu bewerkstelligen. Das Thema ist nicht neu. Wir kennen es aus den großen sozialen Aktivitäten des Dritten Reichs, dem Müttergenesungswerk, dem Winterhilfswerk, der Bewegung zur Volksgesundung, „Kraft durch Freude“ usw. Das waren nicht einfach selbstverständliche staatliche Einrichtungen, sondern propagandistische Bollwerke wider die Feinde der gesunden Volksempfindung. Wer Kraft und Freude versammelt, der kann auch Kraft und Freude einfordern. Teile und herrsche, zerteile und verbinde.
Wer über die Definitionsmacht des Ganzen verfügt, kann auch dessen Heil verkünden. Und es geht jetzt ganz offensichtlich um diese Definitionsmacht, die Westerwelle seinen Freunden zuweist, die er „Leistungsträger“ nennt: Das kapitalistische Management. Nicht Arbeit erbringt Leistung, sondern die kapitalistische Organisation der Arbeit – und die machen die Banker, Broker und Bürokraten. So offen  wurde seit langem nicht mehr Lobbyismus für das Kapital durch einen Politiker betrieben. Die Sozialhilfeempfänger sollen sich ihm für ihre Hungergeld auch noch schuldig fühlen und dankbar erweisen. Sie müssen ja dafür auch nichts leisten!
Wo es keine Alternativen geben soll, kann alles geboten erscheinen
Armut macht Angst und drückt auf die Löhne. Und billige Löhne erbringen hohe Ausbeutungsraten für das Kapital, also auch mehr unbezahlte Arbeit, Mehrwert. Auch wenn die Menschen nicht mehr alles kaufen können, was sie produzieren, so produzieren sie doch die Existenzgewalten, die ihnen ihre Kraft abkassieren: Die Mieten, die Gebühren, die Steuern, Versicherungen usw. Das Kapital kann immer die Preise bestimmen und versichert sich auf allen Märkten für seine Verfügungsgewalt und seine Wertpapiere. Doch auch Papier ist endlich. Auch Kapital kann seine Substanz verlieren, wertlos werden. Das Gerangel um Hartz IV zeigt auf, dass die Armut, die schon da ist, noch nicht hinreicht, um das Kapital wieder in Schwung zu bringen. Nicht das Arbeitslosengeld sondern die Angst vor Arbeitslosigkeit soll gesteigert werden, die offene Drohung an jene, die noch Arbeit haben. Dafür nötig erscheint eine Politik mit Arbeitsbedingungen, die so herabgesetzt werden sollen, dass die Lohnauseinandersetzungen auf Jahre hiervon bestimmt bleiben.
Der Staat muss hierzu zu einem Subjekt des allgemeinen Notstands hergerichtet werden. Dazu müssen aus allen Richtungen Vorstellungen von Verarmung und Untergang beigetrieben werden, eben das, was Menschen verstehen. Die Nothelfer überbieten sich mit ihren Untergangsszenarien, die nicht auf die Entwertung des Kapitals bezogen werden, sondern auf die Bewertung der Arbeitskraft. Politik wird zum Arrangement einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Und wer Meinungen für diese Politik wirksam produzieren will, der muss sich schließlich auch noch beeilen und nutzt gerne Kategorien, die sich emotionalisieren lassen. Denn bald wird gewählt, die einzige Wahl in diesem Jahr. Und wer bis dahin nicht an den Stammtischen zum Gespräch geworden ist, hat viele Punkte verloren. Populismus ist angesagt, wenn es keine Argumente mehr gibt für realpolitische Einflussnahmen des Staats.
Aber Populismus ist nicht nur wegen dem nächsten Wahlgang nötig. Schließlich ist ja auch was dran an dem Problem mit den Sozialleistungen. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung nähert sich der Anteil der Sozialleistungsempfänger an der Gesamtbevölkerung mit 37,8 % an die der Erwerbstätigen mit 40,7 % seit Jahren an. Vom Standpunkt der Lohnkosten muss daher schon tatsächlich fast eine ganze Arbeitsstelle einen arbeitenden Menschen und einen Sozialhilfeempfänger zugleich ernähren. Das schürt natürlich Neid, auch wenn die Hilfeempfänger ganz und gar nichts zu Lachen haben und selbst in keinster Weise Arbeitslosigkeit erzeugen. Es zeigt dies im Gegenteil, dass jeder arbeitenden Mensch nur noch höchstens halb so viel zu arbeiten hätte, wäre Arbeit gerecht verteilt, und noch weniger, müssten nicht auch noch Werte geschaffen werden, die hernach nur noch vernichtet werden können. Einige Volkswirtschafter gehen bereits von einer durchschnittlich nötigen Arbeitsbelastung von nur einem Viertel der gegenwärtigen aus.
Da ist was ungerecht, zweifellos. Das aber liegt nicht am Sozialstaat. Es liegt hauptsächlich daran, dass der Kapitalismus nicht in der Lage ist, sein Wertwachstum so zu beschränken, wie die Notwendigkeit der Arbeit immer beschränkter, der Aufwand hierfür immer geringer wird. Es liegt am Verwertungssystem selbst, dass nicht mehr Arbeit zählt, sondern vor allem Verwertungsmacht, der Trieb, Geldwerte zu halten, die weit über die Realität der Dinge hinausgewachsen sind.
Dabei bleiben im Grunde alle Menschen auf der Strecke, zumindest jene, die kein größeres Vermögen besitzen und dennoch Steuern bezahlen müssen. Daher befürchtet die Abendzeitung am 17.2.2010:
„Der Sozialstaat überhebt sich mit dem schrumpfenden Abstand nicht nur finanziell, sondern auch in Bezug auf das Wertegefüge. Je mehr Leistungsempfänger die Leistungsträger finanzieren müssen, desto härter werden die Verteilungskämpfe. Zugleich werden sie komplizierter. Denn je wechselhafter die Lebenslagen, desto mehr Wähler tragen zwei Seelen in ihrer Brust, die des Steuerzahlers und die des Empfängers von steuerfinanzierten Leistungen. Die eine Seele wehrt sich gegen Steuererhöhungen, die andere gegen Sozialleistungskürzungen.“ (soweit die Sozialökonomin Waltraut Peter vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln)
Der Zwiespalt ist für viele schwer zu ertragen. Auf der hier eingeschlagenen Ebene wird man leicht verführbar: Wie, wenn man ein bisschen gezielter sortiert? Von den Hartz-IV-Empfängern sollen nach öffentlichen Behauptungen über 25 % keine Chance mehr auf Vermittlung haben. Ist es da nicht richtig, sie in eine Arbeit zu stecken, die ihnen zwar nichts bringt, sie aber von der Straße holt und jedem vor Augen führt, dass Widerstand gegen die Entwertung der Arbeit zwecklos ist? Solche Überlegungen werden jetzt in die Diskussionen und Talkshows transportiert und bereiten ein Klima der Sozialintrige auf. Der Staat kann sich dabei auch noch als Fürsprecher bürgerlicher Vernunft aufspielen. Und wer vergessen hat, woher die Schulden kamen, die den Staat angeblich so bedrängen, der lässt sich vielleicht auch noch davon beeindrucken. Aber es geht hier schlicht und einfach um einen bankrotten Staat. Der benutzt seine Bürger wie ein Betriebswirt bei drohender Insolvenz seine Abhängige. Sie sollen ihm den Karren aus dem Dreck zu ziehen, den er sich zuvor durch spekulative Kreditaufnahme eingebrockt hatte und sich auch einbrocken musste, um ein System zu erhalten, das nicht mehr funktioniert. Der Staat ist in der Krise, nicht weil es Krise als solche einfach gäbe, als ein Subjekt, das ihn überfallen hätte. Er selbst ist marode geworden, weil sich der Kapitalismus nicht mehr bewirtschaften lässt, weil seine Profitrate sinkt und sein Geld sich immer schneller entwertet und weil daher der Staat durch vielfache Überschuldung ins Trudeln kommt. – Und weil er als Systemretter auf Dauer nicht taugt.
Aber der Wahnsinn soll kein Ende nehmen. Und weil die Politiker deshalb weiterhin von den Bürgern gewählt werden müssen, brechen sie mit den Menschen, die ihnen am wenigsten zur Krisenlösung taugen. Wer noch in Lohn und Arbeit steht, wird deutlich gegen jene positioniert, die aus dem Netz herausgefallen sind. Das soziale Netz funktioniert nun nicht mehr gegen die Armut, sondern als Vorhalt gegen die Armen. Das ist die Situation, in welcher auch der so genannte Sozialstaat nun neu bestimmt wird.
Das Unheil des Ganzen – der Staat und die Krise
Eigentlich ist Arbeit mit Mühe und Aufwand verbunden und jeder achtet darauf, so wirtschaftlich wie möglich damit umzugehen, mit möglichst wenig Arbeit möglichst viel zu erreichen. Aber wenn es zu wenig Arbeit gibt, um davon leben zu können, dann ändert sich mit einem Schlag die ganze Welt. Dann bestimmt nicht die Notwendigkeit, sondern die Macht. Dann kann Billigarbeit plötzlich nicht mehr als Ausbeutung, sondern als Überlebensmittel hergenommen werden. Zynisch genommen ist alles nur eine Frage der Kategorien. Und kann hierdurch der Arbeitspreis gedrückt werden, so ist die Diskrepanz zwischen Sozialhilfe und ordentlicher Arbeit wieder deutlich hergestellt. Man muss ganz einfach Gratisarbeit erzwingen, um Lohnarbeit zu verbilligen. Arbeit soll sich wieder lohnen, heißt es. Und eben so geht das auch: Indem man die Billig- und Gratisarbeit als ihren Gegenpol veranstaltet, erscheint jede andere Arbeit lohnend.
Aber die Löhne bleiben das Grundübel für das Kapital. Es würde sich ja eigentlich am liebsten nur noch durch reine Spekulation vermehren. Doch nur wo an Arbeit gespart wird, gibt es so richtig Profite und Aktienzuwächse. Aber Arbeit sparen kann man nur, wo noch Arbeit ist. Die Bedrohung der Arbeitsplätze ist daher der Wirtschaftsfaktor erster Güte in einem finanzkapitalisierten Land, und sei sie auch nur theoretisch und als Angst in den Menschen, die ihre Löhne und Arbeitszeiten verhandeln müssen. Dass ihre Luft dünn geworden ist, das bekommen die Gewerkschaften in ihren Verhandlungen und deren Resultaten zu spüren. Weder für nennenswerte Lohnzuwächse noch für Investitionen will das Kapital Geld ausgeben. Und das Kapital wird von den Banken ausgegeben.
Wenn die einfachsten Kapitalinvestitionen z.B. in mittelständige Familienbetriebe nicht mehr eingebracht werden, weil sich für die finanzpolitischen Renditeberechnungen solcher Kapitaleinsatz nicht lohnt, zumindest nicht mit aktuell vergleichbaren Profiterwarungen auf dem Weltmarkt, dann bricht Arbeit an kleinen Stellen in großer Masse einfach weg. Da kriegt auch eine fette Exportnation große Probleme. Finanzmarktkrisen erledigen sich zwar irgendwann von selbst, indem sie Geld entwerten. Aber die Verwertungskrise selbst zeigt darin nur ihr systematisches und immer wiederkehrendes Gesicht. Es hat sich in Wahrheit nichts geändert und das eigentliche Verwertungsproblem kommt nicht erst durch die Krise oder durch vergangene Krisen. Es ist das, was die Krise selbst bewirkt, das unnütz gewordene Geld, das sich nur schmächtig hinter einem gigantischen Schuldenberg verstecken kann. Nicht dass die Schulden die Krise begründen würden, sondern weil sie misslungene Kapitalverwertung darstellen, macht sie das zu einer permanenten Bedrohung der Volkswirtschaft. Es ist Geld, das keinen Wert mehr hat und durch Verschuldung wertvoll gemacht wird. Und Verschuldungen bestehen als Forderung, als negative Verwertungsbedingung fort und zwingen den Staat, seine Bürger als Bürgen des Kapitals einzusetzen, um den Wert noch mal beizubringen, den sie schon einmal erarbeitet hatten – nur eben für die Misswirtschaft des Kapitals.
Die Bürger können natürlich nur mit ihrer Arbeitskraft bürgen, die dann wirklich eingebracht werden muss, wenn Wertimporte aus anderen Nationen – also die Ausbeutung wirtschaftlich abhängiger Länder – nicht mehr im erforderlichen Umfang gelingen sollte. Und da spricht einiges dafür. Entweder ist der Wert noch durch zukünftige Arbeit aus Verpflichtungen oder durch Wertimport aus dem Ausland bei zu bringen, oder der ganze Geldmarkt fällt in sich zusammen, inflationiert. Das ist dann der Gau der gesamten Wirtschaft, vor allem aber für die so genannten kleinen Leute. Besitz haben sie keinen. Ihr Geld zerrinnt ihnen in der Tasche. Der Kapitalismus hat ein dickes Problem überhaupt, das sich aber vor allem nur an den so genannten Rändern der Gesellschaft abspielt, die sich immer mehr als sein zentraler Knotenpunkt erweisen.
An diesem knirscht alles im Gefüge der Kapitalverwertung. Ihre Grundlagen sind und bleiben unsicher, die Geld- und Immobilienwerte instabil, die Konsumentfaltung, die so genannte Binnennachfrage, wichtigste Bedingung für eine gute Konjunktur, stagniert und das Kreditssystem wird von den Banken nur spärlich und schroff gehalten. Dies alles durch hohen Einsatz von Steuergeldern. Der Boom, der damit künstlich entfacht worden war, ist inzwischen fast erloschen, sieht man von den IT-Produkten ab, die allerdings auch vorwiegend aus dem Ausland kommen. Alleine der Finanzmarkt boomt wieder, weil der immer boomt, wo spekuliert werden kann. Und sei es auch nur eine wieder aufziehende Blase, die er hervorbringt. Reale Investitionen spielen nur mehr eine geringe Rolle, etwa nur 5 % der Werte, die auf dem Weltmarkt gehandelt werden. Der Weltmarkt jedoch spricht eine eigene Sprache. Dinge zählen dort wenig, Geld sehr viel. Gehandelt wird mit allem, mit Krediten, Devisen, Wetten, Löhnen, Stoffe usw. Die Wertverhältnisse selbst sind hierfür entscheidend, nicht was für die Menschen von Bedeutung ist. Dort vermitteln sich Billiglöhne aus Ländern, in denen man mehr als  ein ganzes Jahr von einem deutschen Monatsetat leben würde. Oder wo man die Bodenschätze, z.B. die Gold- und Silberminen eines ganzes Landes wie Peru, mit ein paar Bestechungsgeldern und ein bisschen Infrastruktur abgelten kann, weil die Länder längst durch Armut dazu gezwungen sind, Armut, die dort per Monokulturen und Finanzwirtschaft eingeführt worden war.
Der Sozialstaat hatte uns hierzulande vor extremer Armut bewahrt. Sie wurde abgefedert, damit Reichtum stabil bleiben konnte, damit Bildung, Gesundheit und Vermögen jederzeit zur Kapitalverwertung einsetzbar blieben. Der Arbeitsprozess war mobil, weil die Arbeitsplätze wechseln konnten, die Besetzung flexibel, weil immer genügend Fachleute auf den Arbeitsmärkten verfügbar waren. Und der Lohn ließ sich am besten drücken durch die Zunahme der Arbeitslosigkeit, auch wenn hierfür oft Arbeitskräfte aus dem Ausland importiert werden mussten. Der Sozialstaat war keine Frage der Fürsorge, sondern eine Notwendigkeit des modernen Kapitalismus. Und der konnte sich dann auch noch sozial erscheinen.
Aber der Sozialstaat gehörte immer zum Vermögen eines Nationalstaats und war von diesem abhängig. Während sich indes das globale Kapital frei in die Welt hinein entwickelte zu Konzerngrößen, welche das Vermögen der Nationalstaaten weit übertraf, wurden sie zunehmend vom Finanzwert des Geldes auf den Weltmärkten bestimmt. Der Arbeitsprozess geriet in den Hintergrund, zum reinen Material eines Weltmarktes, der sich um die Deckung des Geldes, um dessen Herstellung und Vermittlung wenig kümmerte. Aus so genannten Volkswirtschaften wurden konkurrierende Betriebswirtschaften, die mit ihren Währungen und Sozialhaushalten sich gegenüber standen. Es wurde die Weltmacht des globalen Kapitals bis in die Nationalstaaten hinein getrieben, die Knappheit ihrer Sozialkosten und Löhne zum Maß ihrer Verwertbarkeit. So war aus einer unerwarteten Ecke der Welt, auf den Wachstumsmärkten der einst unterentwickelt gehaltenen Länder wie Indien und China plötzlich ein massiver Gegner entstanden. Nicht nur die Sozialleistungen und Löhne waren in diesen Ländern äußerst knapp, sondern vor allem der Lebensstandard selbst. Sie hatten nichts zu fürchten. Seitdem scheint es keine wirkliche Entspannung bei den einstigen Weltmarktführern mehr zu geben. Der Sozialstaat war und ist aber immer noch der Grundpfeiler des europäischen Staatsverständnisses und der ihm entsprechenden repräsentativen Demokratie.
Die Staatsgewalt der Kapitalkrise als Kulturstaat
Der Neoliberalismus wollte und will uns weiß machen, dass sich der Markt von selbst regeln könne. Auf jedem Stuhl im Parlament beweist sich das Gegenteil: Ohne Eingriff der Politik in die Preisbildung, in die Grundstückpreise und Mieten, in die Kosten und Verfügbarkeiten der Kommunikations- und Transportmittel, in die Arbeitszeiten und –kosten, der Erbschaften, Lizenzen, Renten und Gesundheitskosten usw. würde sich der Kapitalismus schnell und ins Absurde hin auflösen. Der Staat ist nötig, wo das Kapital beschränkt sein muss, um seine organische Grundlagen zu bilden und zu sichern, wo die Menschen leben können müssen, um überhaupt für Arbeit und Konsum da zu sein. Das Kapital will nur verwerten, also alles für Wert vernaschen und verbrauchen, Mensch, Natur und Kultur. Aber der Staat will eben nicht nur das Material für das Kapital, die Produktionsbedingungen schützen und bewahren, sondern es vor allem befördern, der Wertbildung behilflich sein, Wertwachstum fördern. Alle Probleme, vor denen der Staat steht, erscheinen ihm durch Kapital auflösbar: Arbeitslosigkeit, soziale Konflikte und Ungerechtigkeiten, Wohnungsnot, Produktivitätsstillstand usw. Die politischen Parteien führen auf ihren Wahlkämpfen ganze Litaneien von Wünschen an den Staat auf und welche Entwicklung sie durch ihn erhoffen. Aber auch für ihn zählt letztlich nur die Geldentwicklung. Geld ist also auch sein Hauptgeschäft. Dahin drängt eben alles, was im Kapitalismus zustande kommt, gesellschaftlichen Erfolg hat und gesellschaftlich befördert wird. Kapital, das ist das Ganze schlechthin, auch wenn es schlecht um die Menschen und die Natur, um das Klima und den Weltfrieden steht – oder gerade weil es darum sie schlecht steht. Denn wer sonst soll das ändern können, wenn nicht Kapital. So denkt man hier immer noch.
Doch was macht den Staat nun tatsächlich aus? Zunächst ist er lediglich eine geschichtlich entstandene Nation, die als eine geografisch begrenzte Wirtschaftsform existiert. Aus den vereinzelten Marktflecken und Burgen waren politische Zusammenhänge erwachsen, die sich in wirtschaftlichen Beziehungen des selben Rechtswesens darstellten und dieses Recht als das Recht des Privateigentums verfestigten. Darin war der Warentausch erst voll entfaltet und Geld zum wirklich allgemeinen Verhältnis entwickelt, schließlich auch als Maßstab der Preise selbst bestimmend. Um in dieser Bestimmung gleich geltend sich auf alles zu beziehen, ist der Staat zwar aus den Verhältnissen der jeweils konkurrierenden Einzelinteressen herausgesetzt. Er ist aber nicht frei von den ökonomischen Grundlagen. Wohl aber ist er selbständig in seiner politischen Wertbestimmung, indem er selbst Werte formuliert. Er prägt Münzen, bestimmt Wechselkurse, Devisen und Leitzins so, wie es dem Kapital im allgemeinen politisch nötig oder auch nur opportun erscheint. Dahinter steht, dass der Staat nicht nur die Geldform in Pflege hat, sondern selbst die letztliche räumliche Dimension des nationalen Kapitals und also auch höchste Figuration der Grundrente ist, also den Wert darstellt, der sich an unbezahlter Arbeit überhaupt aus einem ganzen Produktionsverhältnis auspressen lässt. Nach dieser Verrentung wird er von den globalen Geldinstituten angesehen und bewertet. Und nach dieser bewertet sich die letztendliche Wertstabilität einer Nation, also auch das Vermögen der staatlichen Geldaufnahme. In dieser Rente formuliert sich das gesamte Wirtschaftsvermögen einer Nation. Und nach dieser stellt sich ihre Macht respektive Ohnmacht auf dem Weltmarkt immer wieder neu heraus. Von da her bemisst sich dann schließlich auch, was dem Staat welche Bürgerinnen und Bürger an Leistungssicherheit, an Produktionspotenzial bieten und was sie ihm also wie viel wert sind.
Die Zusammenhänge von Staat und Kapital greifen demnach weit und tief, weil letztlich das Allgemeininteresse des Kapitals sich selbst im staatlichen Tun zu allem zusammenfasst, zu Wirtschaft, Kultur, Ausbildung, Gesundheitswesen, Sozialwesen usw. Der Staat ist selbst die reinste politische Form des Kapitals, das sich nach wie vor aus der selbständigen Form des Mehrwerts bestimmt, also aus unbezahlter Arbeit. So hatte das Karl Marx schon gefasst:
„Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst hervorwächst und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt. Hierauf aber gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit zugleich seine politische Gestalt.“ (MEW 25, S.799)
Der Staat ist die politische Gestalt eines ganzen Produktionsverhältnisses. Er wirkt auf seine eigenen Voraussetzungen zurück, wie er auch durch diese in der Welt sich darstellt und tätig ist. Je mehr er auf dem Weltmarkt selbst verflochten ist, desto mehr wirken auch die Wertverhältnisse von dort auf ihn zurück. Gerät er also auch dort in eine Verwertungskrise, so hat bald darauf auch die entsprechende Nation ihre Wirtschaftskrise. Es existiert schon seit langem kein Land mehr wirklich unabhängig.
Eine Weltwirtschaftskrise erzeugt besonders bei den schwächeren Ländern ein wirtschaftliches Fiasko. Waren sie bisher noch als potenzielle Billigexporteure gehätschelt, sind sie schlagartig nicht mehr gefragt. Und wenn dann ein Staat wirtschaftlich zusammenbricht, dann wird er schnell aus dem Welthandel mehr oder weniger ausgegliedert, zumindest weit unter Wert behandelt. Wirtschaftliche Unterwerfung verträgt sich nicht mit nationaler Identität, das hatten auch schon mal die Deutschen mächtig zu spüren bekommen. Die so betroffenen Staaten werden sich auf ihre eigene Wesenheiten besinnen und die Menschen darauf einschwören. Und weil ihr Kapital in seiner zentralen Funktionalität dann beschädigt ist, werden sich die Menschen solcher Länder nur mehr an dem orientieren, was ihnen noch aus Überlieferung verblieben ist: ihre Kultur. Darauf können sie sich rückbeziehen; damit können sie sich identifizieren und neu formieren. Kultur im Gegensatz zum Kapital erscheint dann als emanzipatorische Geste der Länder, die aus dem Kapitalverhältnis ausgefallen sind. Sie treten als Kulturstaaten auf, für die es kein Fortbestehen auf ökonomischer Grundlage mehr gibt. So erscheinen dann die Krisen der Welt schnell als kulturelle Krisen. Es ist ein weltweiter Klassenkampf der sich als Kampf der Kulturen gibt. Der Kulturstaat erscheint dann als Schutzstätte kultureller Traditionen und Identität und erzeugt von daher wieder ein Verpflichtungsverhältnis unter den Menschen, das gesellschaftliche Kräfte bindet. Jenseits ökonomischer Potenziale befindet es sich allerdings am Nullpunkt und ist zwangsläufig militant, gleich, ob im Iran oder im Dritten Reich.
Der Staat hat keine Kultur. Aber als Kulturstaat muss er Kultur veräußern, muss ihre Gesinnung abrufen können. Der Übergang verläuft schleichend und zunächst über sehr große Hebel. Die Krise des Weltkapitalismus war z.B. einmal die Voraussetzung dafür, dass der Überlebenskampf der Nationen in den 20ger Jahren des letzten Jahrhunderts Deutschland ausgeschaltet hatte, weil dieses sich hierfür als zu schwach erwies. Aber durch den Druck nach innen wurden die wirtschaftlichen und militärischen Bedingungen geschaffen, welche das „deutsche Wesen“ schlagartig wieder in die Welt zurück katapultierte. Der kulturelle Druck wird aber nur dadurch zu einem starken politischen Faktor, dass er für die Menschen im Lande sozialstaatlich transportiert wird. Faschismus entsteht nicht so einfach aus Gesinnung, wie es gerne gesehen wird, so, als habe man nur auf die falsche Gesinnung gesetzt oder als seien die Menschen nur „verführt“ worden. Er entsteht unmittelbar durch den Staat als Kulturmacht eines Sozialverhältnisses in Zeiten, worin dessen Wirtschaft zusammengebrochen ist und staatliche Fürsorge als Überlebensmöglichkeit erscheint.
In den Kommunen steht es an
Hinter den Schuldzuweisungen, die staatlicherseits gegen die Armen und Randständigen dieser Gesellschaft betrieben werden, steckt ein massives Interesse. Natürlich hat man aus den Besprechungen mit den beratenden Wissenschaftlern, aus den Wirtschaftsberichten und Haushaltsplänen des Bundes, der Länder und Kommunen heraus begriffen, dass da einiges am Zusammenbrechen ist. Auch ohne dies ist es leicht zu vermerken. Da werden in den Kommunen Bäder geschlossen ebenso wie Museen, Theater, Kulturveranstaltungen werden abgesagt, Verkehrsbetriebe, Wasserwirtschaft und Müllabfuhren verkauft und per Leasingvertrag von einer Kapitalgesellschaft zur teuren Nutzung wieder zurückgekauft, – um Zeit zu gewinnen, um Kosten zu strecken. Aber die Zeit lässt sich nicht ewig strecken. Irgendwann wird der Ausverkauf perfekt sein und alles nur noch teurer werden. Und da wird zudem die Sozialkasse so langsam aber sicher klamm. Die Staatskrise wird zu einer umfänglichen sozialen Krise in den Kommunen. Die Gewerbesteuer reicht nicht mehr, um deren Haushalte zu decken und andere Einnahmen lassen sich kaum absehen, ohne dass andere Löcher aufgerissen werden. Geld brauchen sie alle und schon reicht auch dem Bund die Mehrwertsteuer nicht mehr hin. Eine Erhöhung der Kapitalsteuer fürchtet er wie der Teufel das Weihwasser, weil ihm das Kapital mit Kündigung droht.
Die Politik weiß also eigentlich schon längst, dass da nichts mehr geht. Dennoch bleibt sie in der Hoffung verbohrt, dass es das Kapital irgendwann doch wieder richten wird. Warum eigentlich? War es nicht immer gerade dort flüchtig, wo nichts mehr zu holen war? Irgendwie weiß sie doch, dass von allen Seiten Verwahrlosung droht und dass sie in vielen Kommunen schon grassiert. Deshalb baut sie die Schuldigen dort auf, wo Elend sichtbar wird: Bei den Menschen, die aus dem gesellschaftlichen Zyklus zwischen Arbeit und Bedürfnissen herausgedrängt wurden. Wer das Problem zugewiesen bekam, der soll es auch behalten und mit ihm ausgeschlossen bleiben. Das ist die schlichte Logik der Rechtspopulisten.
Aber dem Staat als Kapitalverwerter des Sozialverhaltens steht immer auch ein wirkliches soziales Verhältnis gegenüber, das sich gegen die Kapitalbindungen emanzipieren kann. Es ist hierzulande vielleicht nurmehr das einzige Verhältnis, das hierzu in der Lage ist: Die Kommune. Hier ist zumindest die soziale Nähe am dichtesten, sind die verdeckten Mängel allseitig sichtbar und die Menschen direkt an ihrer Sache. Das Ausgeschlossene kann hier zum Zentrum, zum Fokus der gesellschaftlichen Probleme werden, der Bankrott der Kommunen zu einer Neubesinnung auf wirklich kommunales und regionales Wirtschaften, das frei ist von Verwertungszwängen.
Hier gibt es die Möglichkeit zu einer lokalen Versorgung, zu einem regionalen Reproduktionsverhältnis, das sich als Zelle einer freien Ökonomie verstehen lässt, als Grundlage für eine Ökonomie, die sich aus den Kapitalinteressen emanzipiert hat und sich nicht mehr am Mehrwert, sondern am Mehrprodukt orientiert, das eine Gesellschaft hervorbringt. Zwar sind die Kommunen immer noch abhängig von den großen Industrien und Betriebe, die Kapital beibringen, sofern sie es überhaupt regional versteuern müssen, und Arbeitsplätze bringen, wodurch Menschen in Lohn und Brot, wenn auch nur zu einem Hungerlohn gelangen.
Hier muss umgedacht werden: Nicht die Regionen dürfen um das Kapital und seine Arbeitsplätze betteln. Sie müssen so oder so in der Lage sein, ohne es auszukommen, weil sein Beitrag nicht mehr hinreicht und seine Arbeitsplätze zunehmend verelenden. Es soll das Kapital um sein Recht fürchten müssen, unbezahlte Arbeit zu kassieren, Mieten, Grund und Boden zu bestimmen und Natur zu belasten. Die lokale Industrie muss selbst kommunal bewirtschaftet und in eine Vertragswirtschaft überführt werden, die den Menschen entspricht und neue überregionale Beziehungen auftut. Es ist eine Utopie. Aber ohne diese wird es keinen Schritt weitergehen. Nichts ist realer als das.
In den Kommunen entstehen längst eigenständige Wirtschaftsformen, wenn auch noch in geringem Ausmaß. Energiegewinnung, Selbstversorgungseinrichtungen, lokaler Wohnungsbau, Wasserwirtschaft und Verkehrsbetriebe und dergleichen, werden in Keimformen bereits selbst betrieben und lokalpolitisch bestimmt. Und gerade hier versucht das Kapital seine letzten Werte zu kassieren. Hiergegen weden immer mehr Menschen wach und mobil. Es wird um alles gekämpft werden, was den sozialen Selbsterhalt betrifft. Aber ausgetragen wird es überall. Kommunale Vertragswirtschaft wird nicht ohne Änderungen des Privatrechts gehen und auch politisch nicht mehr von den abstrakten Allgemeininteressen des Bundes bestimmt werden dürfen. Ohne die Umkehrung der bisherigen Politik zu einer wirklich subsidiaren Demokratie wird es nicht gehen. Repräsentative Demokratie kann nicht mehr funktionieren und muss von einer gegliederten Demokratie abgelöst werden, die sich unmittelbar auch ökonomisch bewähren muss. Es gibt viele Überlegungen hierzu, die zum Teil unter dem Tiel „solidarische Ökonomie“ existieren. Und die müssen diskutiert werden.
Aber schließlich wird die Umkehr vor allem davon abhängig sein, wieweit sich die Arbeiter und Angestellten dieser Gesellschaft darauf einlassen können und werden, wie die Gewerkschaften sich daran beteiligen und sich auch über den Blickwinkel ihrer Lohntüten hinaus sich bis in ihre regionalen Gliederungen hinein verständigen und regional beziehen können.
Darüber wird  noch viel zu diskutieren und zu machen sein.

Quelle: Kulturktitik

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